Ein I-Pod nano auf der flachen Hand hat das Gewicht eines neugeborenen Mäusebabys oder eines Stücks Baiser. Ein Walkman ist ein Wurfgeschoss. Er liegt in der Hand wie ein mächtiger Flußkiesel. Jetzt wird die Produktion des ersten transportablen Musikmediums, das in den 80er Jahren entwickelt und mit Begeisterung aufgenommen wurde, eingestellt.
Unser Leben soll mittlerweile in allen Bereichen von der passenden Musik unterlegt sein. Jeder Weg möchte verkürzt werden, verschönert und erleichtert durch Brahms und Händl, Metallica oder die Beatles. Manch einer fühlt sich erhoben durch den ständigen akustischen Einfluss eines alleinigen Lieblingsliedes. Ein anderer hat stimmungsabhängige Musikzusammenstellungen kompiliert, andere wechseln von einem Künstler zum nächsten und entscheiden sich für die einzig wahre musikalische Untermalung beim Verlassen der Straßenbahn erst kurz bevor sie von ihrem Platz aufstehen.
Ein anorektischer MP3- Player bietet all diese Möglichkeiten, ohne sich bei der Benutzung in den Vordergrund zu drängen. Ein Walkman offeriert sie seinem Besitzer ebenfalls. Aber er macht sich dabei bemerkbar. Er fordert Zeit und Platz ein. Er ist ein dicker Klumpen in der Hosentasche, er schlägt beim Joggen bei jedem Schritt an die Hüfte, er beult den Rucksack aus und fällt unter der Schulbank auf.
Er ist massiv und wird niemals ein zeitgemäßeres Format erhalten als das, das das ungleichseitige Viereck einer Audiokassette ihm aufzwingt. Und auch die Dauer des Musikgenusses wird von der Kassette bestimmt- maximal 120 Minuten ohne Unterbrechung können gehört werden, und auch das nur auf den extrem empfindlichen 240- Minuten- Kassetten.
Gebräuchlicher jedoch sind die 90- Minuten- Varianten, auch sie wie alle Kassetten in der Reihenfolge ihrer abspielbaren Seiten mit „A“ und „B“ gekennzeichnet. Wer erinnert sich nicht daran, jedes Mal aufs Neue die Kassette in allen gegebenen Wenderichtungen falsch in den Walkman eingelegt zu haben? Der Fehler wurde immer erst beim Abspielen bemerkt, die Kassette wiederholt umgedreht, dann musste das auf der ungewollt gehörten und damit auf der korrekten Seite verpasste Stück des Bandes zurückgespult, wieder erspult werden.
Und wie schlichtet man den Streit zwischen Geschwistern, die auf einer Reise in der Uneinigkeit der Seitenwahl und im Eifer des Gefechts das Magnetband aus der geliebten Dschungelbuchkassette gezogen und sie damit für die weitere Fahrt unhörbar gemacht haben?
Ein Walkman scheint ein anstrengendes Gerät zu sein.
Dabei fordert ein Walkman von seinem Benutzer nur eines: Ruhe. Die Ruhe, stundenlang vor einem Kassettenrecorder zu knien und rechtzeitig die „Record“- Taste zu drücken, wenn ein guter Song im Radio gespielt wird. Die Ruhe, in Kauf zu nehmen, dass deswegen auf den liebevollsten Zusammenstellungen immer die ersten Sekunden der Lieder fehlen. Wieviele Kassettenhüllen musste man beschriften und auch noch eine Kurzform finden, die auf den schlechtsitzenden Klebeetiketten genau ausweist, was den Hörer erwartet? Zu Zeiten des Walkmans musste man sich am Morgen entscheiden, welche Musik einen über den Tag begleiten sollte. Einer plötzlichen Eingebung zu folgen und, um nicht dem Wahnsinn zu erliegen, in einem bestimmten Moment genau einem bestimmten Lied zu lauschen erforderte viel Spularbeit, klack- sssssssssssssssss- klack, das Stoppen an der gewünschten Stellen, gegebenenfalls einen Kassettenwechsel.
War es denn überhaupt notwendig? War das Gefallen an moderner Musik damals nicht viel mehr die Bewunderung und Begeisterung für einen Künstler, eine Band, als die ständige Spiegelung seiner selbst in der Musik, in den Texten? Konnte wertgeschätzte, gemütsbeeinflussende Musik nicht auch Titel für Titel gehört werden, jeden Tag in der gleichen Reihenfolge?
Das Musikhören mit einem Walkman war nicht nur eine Begleitung, eine Zerstreuung nebenbei.
Es war ein Prozess, eine Tätigkeit, die mit der Entscheidungsfindung begonnen hat und auch nach außen getragen wurde. Die heute als unpraktisch empfundenen sperrigen Kopfhörer mit ihren silbernen Bügeln, den unhygienischen Schaumstoffpads und der miserablen Klangqualität hatten den gigantischen Vorteil, dass sie gesehen wurden. Der musikhörende Geschäftsmann auf dem Weg zur Arbeit konnte nicht angesprochen werden, zumindest nicht versehentlich, denn die Micky- Maus- Ohren beiderseits seines Gesichtes wiesen ihn für den Augenblick als taub aus.
Der Walkman schuf dem Besitzer ein eigenes kleines Kompartiment, in dem das Musikhören untermalt wurde von dem monotonen, beruhigenden Rauschen der abgespielten Kassette.
Vor kurzem war ich in Österreich, in einer Kleinstadt. Vor dem Gartentor einer imposanten Stadtvilla stieß ich auf einen Weidenkorb, randvoll gefüllt mit alten Musikkassetten und der schriftlichen Aufforderung an den Passanten, sich zu bedienen.
Es wird Winter, die Bäume verlieren ihre Blätter und die letzten Walkmen verschwinden aus den Kaufhausregalen. Ich habe zwei Kassetten mit karibischer Musik ausgewählt. Sobald gegen Ende des Jahres der erste Schnee fällt werde ich mich rücklings auf den Boden legen, den surrenden, warmen Walkman auf dem Bauch, und den kubanischen Rhythmen lauschen, die aufgrund der großen Entfernung zu Europa ein wenig verschwommen klingen werden.
Mehr über die Geschichte des Walkman findet ihr hier
Schlagwörter: Kassette, Sony, Walkman
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