Was kommt heraus wenn sich einer der Ur-Väter der elektronischen Musik mit Gleichgesinnten zum musizieren trifft? Genau – entweder was Großes oder ein buntes Potpourri „irgendwas“.
Sieben Jahre nach seinem letzten Studioalbum – mit neuem Material „Téo & Téa“ veröffentlicht Jean-Michel Jarre nun mit Electronica 1: The Time Machine Platte Nr. 17 (je nach Zählung auch Nr. 19). Seit 2012 arbeitete er an der Platte. Insgesamt 30 Künstler fragte der Franzose ob sie mit ihm an jeweils einem Stück arbeiten wollen. Alle sagten zu. Es kam eine illustre Runde an namhaften Musikern unterschiedlicher Couleur zusammen und die Namen lesen sich wie die Creme de la Creme der Musik. Unter ihnen 3D von Massive Attack, Pete Townshend sowie der Pianist Lang Lang. Der im Januar 2015 verstorbene Kopf von Tangerine Dream ist hier mit einer seiner letzten Arbeiten zu hören – ihm ist diese Platte gewidmet! Auf Grund der Masse der Leute die zugesagt haben, entschied sich Jarre das Album zu teilen. Electronica 2 erscheint dann im März 2016. Doch jetzt wollen wir uns erstmal Teil 1 widmen, dass wir in der 2 LP Variante vorliegen haben. Wichtiger Pluspunkt der Vinylausgabe, auf den Platteninlays sind zu jedem Stück Hintergründe und Zitate gedruckt hat. Der Sound der Vinylausgabe ist überragend. Dynamik pur und keine Kompression! Also im Falle lieber zur Schallplatte greifen – da hat man mehr vom Sound!
Die wichtigste Frage ist, wieviel Jarre steckt in den vielen Kollaborationen? Verdammt viel! In jedem Track ist seine musikalische Handschrift deutlich zu spüren. Schon der Opener „The Time Machine“ mit dem Berliner DJ Alexander Ridha bekannt als Boys Noize legt die Fahrtrichtung vor. Eine Thema wird umspielt und baut sich auf, flacht mal wieder ab und endet in einem Knall. Schön ist, dass man immer wieder bekannte Jarre Sounds wie die Lichtorgel oder den Synthiesound aus Oxygene vernimmt. Das Stück fungiert als starker Opener, der perfekt auf die 70 minütige Reise einstimmt. Spiegel Online berichtete er, was die Grundidee hinter „Electronica“ ist: „Ich habe mich gefragt, was wohl passiert, wenn ich meine musikalische DNA mit Musikern teile, die ich mag und mit denen ich mich ästhetisch verbunden fühle. Mein Album sollte mein Album sein, aber dennoch eine Kollaboration. „
Dass Jean Michel Jarre auch gut Radiosongs komponieren kann, bewies er schon 1976 mit Oxygene 4 oder später mit Rendez-Vous 4. „Glory“ mit M83 ist so ein hymnenhafter Song, der perfekt im Radio funktionieren würde. Aber auch If..! mit Little Boots ist so ein Stück. Sie lernte der Franzose kennen, als man ihm ein Youtube Video zeigte, wo sie Jarre Songs auf der Lichtorgel covert. Er nahm Kontakt zu der jungen Engländerin auf und dabei entstand die leichte Popnummer. Der dritte Song, der in diesem Reigen genannt werden sollte ist die Kollaboration mit dem The Who Gitarristen Pete Townshend. Dabei kam ein Songtrio zusammen, wovon auf Electronica 1 der zweite Teil veröffentlicht wird: „Travelator Pt.2“. Part 1 und 3 sollen demnächst nochmal gesondert auf den Markt kommen. Wer jedoch Gitarre erwartet dürfte enttäuscht werden.
Wie oben erwähnt, sind immer wieder Rückbesinnungen auf frühe Werke zu hören. Die Synthieflächen und Arpeggios in „Close your Eyes“ könnten quasi direkt von Equinoxe stammen. Manch einer mag Selbstplagiat oder Ideenlosigkeit schreien, doch sind es die Elemente der französischen Band AIR die hier für frischen Wind sorgen ohne dabei aufdringlich zu sein. Ausserdem ist das Selbstzitat kein Makel, sondern Jarre hatte es doch angekündigt. Das Electronica Projekt soll auch eine Zeitreise durch dieses Genre sein. Dabei soll nicht nur der Altmeister eine Schnittstelle bilden, sondern eben auch seine Mitmusiker. Die beiden Teile von „Automatic“ – mit dem Depeche Mode bzw. Erasure Gründer Vince Clarke sind eine Rückbesinnung in die Achtziger und gleichzeitig ein Blick nach vorn. Fans von Schiller dürften sich in dem Track wiederfinden. In ähnlichen Sphären wandelt auch „Zero Gravity“. Das Stück ist Edgar Froeses letzte Aufzeichnung. Jean-Michel Jarre fuhr zu dem Tangerine Dream Mastermind nach Wien um mit ihm daran zu arbeiten. Wie bei fast allen Songs kam er mit Demos zu den angefragten Künstlern. Dabei ließ er ihnen immer Raum für eigene Ideen. Obwohl sich Jarre und Froese nicht trafen, haben sie doch ähnliche Wurzeln und Ansätze. Die umherschwirrenden Sounds Tangerine Dreams in Kombination mit den Klängen des Franzosen – ein langehegter Traum. Nicht nur beider Musiker, sondern auch vieler Fans. Schon vor Jahren war mal ein Zusammenkommen mit Kraftwerk gewünscht, doch dies wurde von Florian Schneider abgelehnt.
Etwas deplatziert wirkt „Watching You“ mit 3D von Massive Attack. Der Track mit seinen stampfenden Drumbeats und Reversevocals wirkt zwischen „Stardust“ mit Armin van Buren und „A Question of Blood“ mit John Carpenter als Füllmaterial – da kann auch das leise eingestreute Thereminspiel von Jarre nichts herausreißen. Der zuletztgenannte Carpenter Track ist dagegen genial! Wer die Soundtracks des Horrorregisseurs kennt, wird sich sofort heimisch fühlen.
Wie ist Electronica 1: The Time Machine nun einzuordnen? Als etwas Großes! Der Ansatz von Jean-Michel Jarre Musiker mit einer ähnlichen musikalischen DNA zu finden und einzuladen ist so genial wie einfallslos. Gleich und gleich gesellt sich eben gern und dennoch sind die Unterschiede und Backgrounds so groß, dass man sich gegenseitig zu kreativen Höhenflügen anstacheln kann. Die Sounds und Einflüße Jarres sind immer präsent. Trotz des kreativen Freiraums seiner Gäste ist seine Handschrift erkennbar. Das macht Spaß, lädt zum träumen und entdecken ein. Das Spannende dieser Platte ist, dass man bei jedem Durchgang etwas neues hört – so facettenreich ist das Gesamtbild! Nur wenige Stücke sind weniger gut gelungen- eben das genannte „Watching You“ oder „Conquistador“ mit Gesaffelstein.
Fakt ist, er hat alles richtig gemacht! Der Jean-Michel Jarre des 20. Jahrhunderts beweist, dass er im 21. Jahrhundert immernoch bestehen und überzeugen kann! Man darf auf den 2. Teil des Albums gespannt sein! Dann mit Leuten wie David Lynch.
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