Ende Mai erblickte ein musikalisches Kunstwerk das Licht der Welt, das wieder einmal seines Gleichen sucht!
Addiert man die Summe der Geburtsdaten von Sänger 京(Kyo), Gitarrist Uta, Bassist 裕地(Yuchi), Gitarrist/Pianist 匠(Takumi) und Drummer 未架(Mika), so erhält man die geometrische Figur, die das neue, düstere Cover des aktuellen sukekiyo Albums ziert. INFINITUM (unendlich) so der wie gewohnt auf Latein gehaltene Titel.
Düster und obskur wirken auch die bizarren Klänge, mit denen uns der Einstiegstrack 偶像moratorium (Guuzou moratorium/Abgott/Göttinnen-Moratorium) erwartet. Ein blecherner Sound, untermalt mit eintönigem Sprechgesang, der zu einem Mantra anschwillt, in welchem 京(Kyo’s) computer-manipulierte Stimme Dämonen zu beschwören scheint. Tatsächlich handelt es sich um einen bedrückenden Trennungstext. Ungebräuchlich in Katakana gehalten und größtenteils spiegelverkehrt vorgelesen. Eine absurde, wie auch erneut geniale Idee des niemals ermüdenden Einfallsreichtums des 43-jährigen Multitalents. „Dank dir wiederholt sich nun das Gefühl, nicht über dich hinweg kommen zu können“ – heißt es da und scheint die wortwörtliche ‚Verlängerung der Ablauffrist – ins Unendliche‘ bezeichnen zu wollen. (*Anmerkung zum Wortspiel: „Endzustand“ (Makki joujou) / „unheilbar krankes Mädchen“ (Makki shoujo).
Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass man sich musikalisch wieder einmal neu erfunden hat – ein Vergleich zu dem Vorgängeralbum ADORATIO (2017) kann höchstens in einer Hinsicht gezogen werden: war ADORATIO auf Sicht der elektronischen Einflüsse in der Bandgeschichte eine Pionierfahrt, so geht es hier in die Vollen! Und so wird es dem einen mehr, dem anderen weniger gefallen. Denn der, wenn auch hier nur spärliche, elektronische Beat windet sich als roter Faden beinahe durch das gesamte Machwerk.
猥雑 (Waizatsu/Kontamination) macht seinem Namen anschließend alle Ehre. Als erste Videoauskopplung aus der neuen Schöpfungsreihe liefert die Superkombo hier nicht nur ein bizarr/verstörendes Real-Life-Game-Filmchen (inklusive Ku-Klux-Klan), sondern auch einen der irrwitzigsten Lyriken aus der Feder des Sängers. Handlungsthema scheint die mehr oder minder geistige als auch körperliche Verfallgesellschaft darzustellen. Ein einzigartig sonderbarer wie auch gesanglich durch und durch lustig anzuhörender Track mit starker Bass_ und Gitarren-Line.
Mit der berauschenden Rocknummer 沙羅螺 (Sharara/’Die Form der‘ Salzbaumspirale) meint man anschließend den passenden Vibe zum abdancen gefunden zu haben und wundert sich über den frischen, fast heiteren Impuls, der hier abrupt gesetzt wird. Beschäftigt man sich wiederum mit dem suizidalen Text, wird schnell klar, aus wessen Hand dieser absolute Anspieltipp stammt. Zynisch bemerkt 京(Kyo) (in Hinsicht auf die japanische Negierungskultur, im Umgang mit dem Thema Selbstmord), dass er seine Gefühle auch nur deshalb in Worte fasst, um sich selbst zu beweisen, dass er überhaupt existent ist.
Die Album-Version des 2018 erschienenen „Kisses“ bietet nicht nur eine textliche Erweiterung der virtuellen Singleauskopplung, sondern eine Klavier/Elektro-Ballade mit herzzerreißendem Gesang, einem bittersüßen Text über Liebe & Zuhälterei und klaren, hohen Tönen, die das Gesamtbild eindrucksvoll abrunden.
Aber sukekiyo setzen nicht nur Akzente! Dass es manchmal die sprichwörtliche Faust ins Gesicht sein muss, zeigt uns dorothy. Was für DIR EN GREY schlichtweg undenkbar wäre, wird hier vom Sänger verwirklicht: Diesem Album scheinen keine Grenzen gesetzt und so singt man mal eben aus der Sicht eines Mädchens, dass sich vergeblich nach Liebe sehnt und ausschließlich Verrat erntet. Begleitet von europäischer 80iger Jahre Discomukke mit einem kleinen Schwenker Fernost. sukekiyo goes Volksmusik? Nach mehrmaligem Hören stellt sich dieser Song vielmehr als bösartiger Ohrwurm der ganz anderen Art heraus.
Danach wird es mit dem einzigartigen アナタヨリウエ (Anata yori ue/Über dich) wieder kühler und emotional trostloser. Der untermalte Discobeat bleibt beständig, wird jedoch durch einige herbe Gitarrenriffs erweitert. „Ich möchte das Leben, was ich gezwungen wurde zu leben, hinter mir lassen, da es mich süchtig nach sich macht. Ich täusche mich über mich selbst hinweg, so wie ich versucht habe mich über meine Probleme hinweg zu täuschen. Ist es das was ich wollte?“ In einem Interview meinte der Frontmann und Songwriter, diesen Song parallel zu der unverwechselbaren Coverversion von MUCC’s Gerbera geschrieben zu haben, da er in beiden Liedern dasselbe Thema verarbeitet hatte, anschließend aber (lustigerweise aus beiden Liedern!) alle MUCC-typischen Elemente entfernte.
君は剥き出し(Kimi wa mukidashi/So fühlst du dich nackt an) wirkt durch seine beklemmenden, teils rhythmisch/gesanglich nicht so recht passen wollenden Übergange zunächst noch etwas beklemmende als sein Vorgänger. Zugegebenerweise erinnert es mich stark an die Gefühle, die ich beim ersten Mal hören von されど道連れ (Saredo Michizure) aus dem Album ADORATIO hatte, wenngleich der musikalische Aufbau ein völliger anderer ist.
Mit 本能お断り (Honnou okotowari/Unterdrückte Instinkte) haben wir den absoluten Zenit des Albums erreicht. Ein herrlich verrücktes Durcheinander zwischen scharfen Gitarrenriffs, Discogeballer und 京(Kyo’s) alltäglichem Wahnsinn (inklusive einiger Anspielungen auf den Film ‚Sasori – Scorpion‘ von 1972). Selbst hören und Meinung bilden! Was 2017 in seiner Demofassung noch nach einem laienhaften Proberaumauftritt zwischen Tür und Angel klang, hatte Zeit und Ruhe zu reifen. Und so ist der neunte Track こうも違うモノなのか、要するに (Koumo chigau mono nanoka, yosuruni/ Kurz gesagt, wollte ich damit etwas ganz anderes zum Ausdruck bringen) beinahe nicht wieder zu erkennen. Aggressive Schreie, verzerrte Maschinenklänge und ein durch und durch sexuell stilisierter Text rund um die Thematik Männer und Frauen. Zurecht hat dieses auf Hochglanz polierte Juwel seinen späten Platz auf einem Album einnehmen dürfen.
Den kompletten, elektrofreien Kontrast bietet der nächste Track 憂染 (Uso/befleckte Trauer), eigentlich japanisch für ‚Lüge‘, wurde interessanterweise jedoch mit einem recht untypischen Kanji geschrieben, wodurch der Titel schnell zu Verwirrungen und Fehlinterpretationen führen kann. Der Text hingegen ist mehr als deutlich verständlich: „Dass einfach rein gar nichts mehr passiert, das habe ich mir so lange gewünscht, dass ich kaum fassen kann, wie plötzlich es in Erfüllung ging. Erschreckend, dass ich mich nun nach diesem schrecklichen Tage zurück sehne“.
ただ、まだ、私。 (Tada, mada, watashi./Dennoch bin ich, noch immer, ich.), so der Name des wohl ebenso herzzerreißenden nächsten Stückes des Albums. Schmachtende, traurige Lyrik zu elektronischen wie auch Klavierklängen hat dieses einzigartige Machwerk bereits als zweite Videoauskopplung zum Album prädestiniert. Ebenfalls hat man hier der Albumversion einige kurze Zeilen hinzugefügt. Mit 濡羽色 (Nurebairo/tiefschwarz) ist literarisch die Farbe von Rabenfedern gemeint. Und die bereits dritte balladenähnliche Songfassung hintereinander. ‚Meine Liebe ging einfach spurlos an dir vorüber. So war das nun mal‘ beginnt ein sehr trauriger wie auch nachdenklicher Text in seichtem Midtempobeat.
漂白 flavor (Hyohaku flavor/Bleichgeschmack) beschreibt abschließend, schlicht und ergreifend 京(Kyo) Eindrücke zu einem seiner Lieblingsfilme ‚SANTA SANGRE‘ von Alejandro Jodorowsky und wirkt zunächst etwas zu seicht und einfach, um dieses wunderbare Album abzuschließen. Nach den letzten drei doch sehr bodenständigen und ruhigeren Nummern hätte man gern einen Knalleffekt als Abschluss wählen können. Chillig, mysteriös und schön von elektronischem Eintakter untermalt, ist dieser Song separat betrachtet aber ebenfalls ein interessanter Aspekt des Albums und sollte durchaus nicht ungehört bleiben.
Abschließend zu sagen, ist dieses Album akustisch in zwei eigene Sparten einzuteilen: Verschreckend beklemmend und verträumt romantisch – somit erwartungsgemäß wieder einmal das, womit niemand gerechnet hätte. Einziges Manko bleibt der teilweise zu extreme elektronische Einfluss, der vor allem 裕地(Yuchi)’s Bass brachial schluckt. Dennoch würde ich nicht von einer Wertung 9/10 absehen und dieses Album jedem empfehlen, der die Band noch nicht kennt oder seit Jahren liebt.
Schlagwörter: J-Music, J-Rock, SUKEKIYO