‚壊れたpianoとliving dead‘ (‚Kowareta piano to living dead‘ / „Vom kaputten Piano zum lebendigen Tod“), so der eigenwillig anmutende Titel der brandneuen MUCC-Scheibe, die seit dem 13.02.2019 in den Läden steht.
Auf den ersten Blick stellt man unfreiwillig fest, dass das neuste Machwerk der japanischen Tausendsassa gerade einmal neun Tracks beinhaltet und somit magere 38:36min abwirft. Was andere als Mini-Album bezeichnen würden, gibt nach dem ersten Hören, jedoch neidlos einem alten Sprichwort Recht: ‚In der Kürze liegt die Würze‘. Denn: Vom aufwendigen Cover bis hin zu einer exquisiten musikalischen Auswahl an Rock/Metal/Jazz/Hip-Hop/Reggae und Klassik lässt dieses Konzeptalbum keinen Wunsch offen! Und mit dieser Entscheidung trifft die im September 1997 gegründete (damals noch als ムックstilisierte) Alternative-Band erneut ins Schwarze! Mit im Boot sind überraschend nicht nur Sänger 逹瑯 (Tatsurou), Gitarrist ミヤ (Miya), Bassist YUKKE und Drummer SATOち(Satochi), sondern exklusiv am Pleite-Piano Keyboarder とおる吉 (Tooru Yoshida).
Und dieser eröffnet uns mit dem ersten Track ‚壊れたpiano'(Kowareta piano/Das kaputte Piano) ein ganz besonderes Wildwestern-Stil – Intro, begleitet von Drummer SATOち(Satochi). Hart, aber herzlich geht es anschließend mit ‚Psycho‘ unverzüglich in die Vollen. Und wieder einmal beweisen MUCC, dass sie wie keine zweite Band Meister der verschiedensten Genres sind. Während frühere Machwerke auf einzigartige Weise von 70iger-Jahre – Disco bis hin zu Nu-Metal kein Format unbedient ließen, besticht ihr neuster Streich vor allem damit, dass innerhalb der Lieder die gegensätzlichsten musikalischen Einflüsse aufeinandertreffen. Indes harter Metal gegen verzerrte Orgelklänge prügelt, beweist Sänger逹瑯 (Tatsurou) die komplette Bandbreite seiner gefühlsbetonten, unverkennbaren Stimme und philosophiert über den negativen Einfluss der Außenwelt auf den emotionalen Werdegang des eigenen Ichs. Temporeich und innovativ zeigt sich, dass die gegenwärtig auf 5 aufgestockte Band weder zum alten Eisen gehört noch nach annähernd 22 Jahren einen Schwund an Einfallsreichtum erlitt.
„Ein Countdown wie von einem Maschinengewehr erhallte, nachdem wahrlich keiner mehr lachte“. ‚Iris‘, so der zart betitelte nächste Track, täuscht beim Taufnamen: abweisend, kalt und kompromisslos. Charakteristisch für dessen musikalisches Thema steht die dominant/monotone Zwillingsspur von Bass und E-Gitarre sowie ein gewagter Gesangs-Mix aus Rap und Reggae – gipfelnd in brachialen Growls, nach der titelgebenden griechischen Götterbotin.
Die nächste sensationelle Überraschung erwartet uns bereits mit dem Nachfolger ‚Vampire‘. Fast schon verträumt und romantisch gliedert sich das pianobegleitete Juwel, ausschließlich textlich, in die bisher eher düstere, schonungslose Atmosphäre ein. Nicht weniger temporeich und mit einer bezaubernden klaren Stimme bezirzt dieses Stück einfach malerisch.
Von einem alles verzehrenden Todeswunsch getrieben, geleitet uns ‚In the shadows‘ zurück in die rockigere, härtere Gangart der Band. Erinnert an ältere Alben wie ‚極彩‘ (Gokusai/2006) oder ‚志恩‘ (Shion/2008) und doch ungleich experimenteller. Was mit einem eingängigen Rap-Part beginnt, wird allzu schnell durch unsaubere, dreckige Schreie des Sängers verzerrt und mit phänomenalen Breaks abgerundet.
Hat man sich bei dieser Berg- und Talfahrt gerade an ein Tempo gewöhnen wollen, lässt die Ballade積想(Sekisou/Konzeption) sprichwörtlich das Blut in den Adern gefrieren. Selten hat eine Ballade der letzten MUCC-Epochen einen derartigen Stich ins Herz versetzt und zu Tränen gerührt. Auch hier bedient man sich verschiedener Elemente von Jazz bis Klassik und einer dahinschmachtenden Gesangsstimme, die über Verlust und Sehnsucht klagt.
Mit ‚百合と翼'(Yuri to tsubasa/Lilien und Flügel) wird anschließend lupenreiner, beschwingter Rock geboten, wie man ihn von MUCC gewöhnt ist und liebt – frisch und unverbraucht. Überwiegend zeigt hier gerade Bassist YUKKE meisterhaft, dass nicht unbedingt der Gitarrist den Ton angeben muss, obgleich dieses Stück sowohl musikalisch als auch textlich irregulär aus der Feder SATOち’s(Satochi’s) stammt.
Bei allem Lobgesang: Was wäre ein MUCC-Album ohne einen Song, auf den man hätte gut und gern verzichten können? Und dieser nennt sich diesmal ‚Countdown‘ und bleibt wie immer eines: Geschmackssache! Trotz des Versuchs, gegen Ende des mit 6:02min längsten Tracks noch ein wenig metal‘ne Härte hinein zu schummeln, bleibt ‚Countdown‘ wie ein 100 Mal von MUCC gehörter, halbherzig produzierter Anime-Song auf halber Strecke liegen und mag sich so gar nicht in das Gesamtkonzept einfügen lassen.
Fast schon im perversen Kontrast hierzu steht der bereits letzte Track ‚Living dead‘. Beginnend mit einem atemberaubenden Duett zwischen逹瑯(Tatsurou) undとおる(Tooru), erwartet uns anschließend erneut eine Rap-Einlage, bei der man musikalische Parallelen zum 2009er ‚Freesia‘ ziehen könnte. Was danach folgt, geht unter die Haut! „Nicht einmal die Tage, in denen ich liebte, haben genug Trauer zurückgelassen, dass es mir vergönnt war zu sterben“, schreit MUCC’s Frontmann herzzerreißend heraus und lässt uns Teil seines alles verzehrenden Weltschmerzes werden. Gänsehaut pur!
Neun Tracks, 38:36min, und jede einzelne davon mit Haut und Haaren MUCC!
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