Drei lange Jahre + nicht minder denn 351 Tage – dann war es endlich soweit: DIR EN GREY (die berühmt/berüchtigte Speerspitze japanischer Musik) zelebrieren ihr bislang 10. Studioalbum ‚The Insualted World‘.
Heiß ersehnt & mit höchsten Erwartungen im Gepäck, zunächst ein kleiner Wermutstropfen: Gerade einmal 13 Songs – darunter: 3 altbekannte Single-Auskopplungen, eine noch sehr junge Neuveröffentlichung & eine Radioversion, die bereits kurz vor Albumrelease in Erscheinung trat. Dazu ein Cover, welches auch nach mehreren Betrachten Geschmackssache bleiben wird. Eingepackt bei einer mageren Spielzeit von 51 Minuten.
Fragt man sich zunächst, was denn passiert sei & ob nach 21 1/2 stolzen Jahren Bandbestehen nun doch allmählich die Luft ausgeht, reichen bereits die ersten Klänge des neuen Longplayer aus, um Kritikern jeden Wind aus den Segeln zu nehmen.
Was hier geboten wird, erfüllt erneut & ohne Zweifel das, was erwartet wurde: Das gänzlich Unerwartete!
Wieder einmal ist es Kyo, Kaoru, Toshiya, Die & Shinya gelungen, sich neu zu definieren, Grenzen maßlos zu überschreiten & die Musik der einstigen Visual-Kei Band quer durch Sodom & Gomorrha zu treiben.
War die, ebenso grandiose, Vorgängerscheibe „Arche“ (alt gr. ‚Ursprung‘) annäherungsweise ein melodisches, geradliniges Konzept voller poetischer Lyrik & ungewohnt viel klarem Gesang, so kann sich ‚The Insulated World‘ bedenkenlos als ‚Gegenkonzept‘ schimpfen: Laut, wild, aggressiv, dreckig & lyrisch und vor allem kompromisslos!
Auffällig sind ebenfalls die größtenteils fehlenden, englischen Textzeilen & der durch & durch punkige, blecherne Sound, der wie ein roter Faden durch dieses Kunstwerk an Wut, Liebeskummer, Selbst-Hass/Zerstörung & Gesellschaftskritik führt.
Statt eines seichten Intros geht es mit 軽蔑と始まり (Keibetsu to Hajimari/Verachtung & Ursache) sofort in die Vollen. Donnernde Gitarren, schmetternde Drums, tiefer Bass & einer wütenden Furiere, die das Mikro ihr Eigen nennt. Dezent an die 2011’er Version von羅刹国 (Rasetsu Koku/Rakshasas Reich) erinnernd, ist dieser Song ungleich kühler, direkter, facettenreich & maßlos aggressiv.
„Das hier ist der einzige Weg für mich, mich lebendig zu fühlen, da ich wertlos bin. Doch wozu sollte ich Bedauern empfinden, wenn ihr es für mich tut?“
Diese brutal-ehrlichen, manisch-depressiven Einstiegsworte, die hier unverholen ins Mikro gebrüllt werden, spiegeln den lyrischen Werdegang des vorliegenden Machwerks wieder & betonen schon jetzt, dass die‘ isolierte Welt‘ ein Abbild Kyos zerrütteten Geistes darstellt. Oftmals betont er in den Texten des neuen Geniestreichs, dass der Tod für ihn eine bessere Option als die vergebliche, nach Liebe & einem greifbaren Schicksal, darstelle, er erschöpft vom Leben sei – erniedrigt durch Schicksalsschläge (und dies alles mit einer Inbrunst, die seines Gleichen sucht!).
‚Devote My Life‘ betitelte er schlussendlich einen Song, der erstmal bereits 2016 auf wenigen Konzerten gespielt, jedoch nie veröffentlicht oder näher benannt wurde. „Es ist nicht eure Schuld, dass ich lieber sterben würde. Ich bereue es schlicht geboren wurden zu sein“ lautet die Entschuldigung an seine Eltern – krankhaft verzerrte, schwere Töne, in einem Strudel aus Schlagzeughieben & Wahnsinn, übertüncht von den namenlosen Dämonen, die nur Kyos Kehle innewohnen.
Mit 人間を被る (Ningen wo Kaburu/In der Haut eines Menschen) folgt die erste Albumversion einer Single-Auskopplung vom 25.04.2018. Nicht nur neu aufgenommen, sondern der ehrlichen, lebens-negierenden Attitude des Albums angepasst. Zum Release des, mit einem futuristischen Video versehenen, Hits hätte man schlichtweg nicht damit gerechnet, dass dieser die ersten melodischen Klänge eines Longplayers bilden könne. Doch auch hier wird deutlich gemacht: ‚Blessing to lose heart‘ lautet die Quintessenz!
Unsauber, dreckig, aggressiv & impulsiv zeigt sich auch ‚Celebrate Empty Howls‘ & wie in fast jedem anderen Song: neue, ungewohnte Hintergrundklänge, engelsgleiche Töne, dann wieder abwärts, zurück in einen wilden, dämonischen Ritt treibende, infernale Gitarren/Bässe & Schlagzeuggewitter.
Am 27.06.2016 erschien ihre 28te Single ‚詩踏み‘ (Utafumi/eine Poesie). Zunächst verwundert, weshalb gerade dieser, ebenfalls mit einem unglaublichen Video gesegnete, Song ausgewählt wurde, wird beim Hören der noch um einiges gelungeneren Albumversion klar: Weil dieser Song den musikalischen Eckpfeiler für das vorliegende Album bildet.
Mit einem Schmunzeln im Gesicht geht es weiter zu ‚Rubbish Heap‘. Elektronische Beats, plötzlich einschlagende Gitarrenriffs & letztendlich ein eindeutig von Dämonen besessener Kyo, der erst – fast schon niedlich- ‚Fist‘ quietscht, als würde es einem unschuldigen Hamster an die Wäsche gehen & anschließend dem Wahnsinn anheimfällt. ‚Ich habe die Schnauze voll – soll ich weiter nach einem Sinn im Leben suchen & mir währenddessen THE FINAL in meine Arme ritzen?‘ (Neben 詩踏みbereits der zweite Song, der auf den Evergreen von 2004 anspielt!)
Beim ersten Mal Hören erscheint die Produktion von 赫 (Aka/Rot) eventuell etwas zu blechern geraten, harmoniert jedoch genau mit der Abgeklärtheit der restlichen Lieder. Ungleich sanfter, melodisch & von einer tiefen Trauer durchzogen, gehört der Song aufgrund seiner unterschwelligen, akustischen Härte dennoch nicht den genre-typischen Liebeskummerliedern an.
Bei der kürzlich erschienenen Radioversion von ‚Values of Madness‘ hatte man das Gefühl, dass in dem punkrockigen, abgedrehten Vollblutsong etwas fehlen würde. Und tatsächlich, die ergänzenden Stellen finden wir auf der Albumversion, zu einer weiteren Perle poliert. ‚I cannot love myself‘ heißt es da, in dem treibenden Misch aus Growling, Rap, Crunch & undefinierbarer Intonation. ‚Noch immer am Leben zu sein, fühlt sich von Allem am Schlimmsten an. Dazu die Tatsache, dass ich unfähig bin mein Selbst zu lieben. Jedes Mal, wenn ich mir darüber den Kopf zerbreche, könnte ich kotzen‘
Was auch immer Sänger Kyo zu diesen lyrischen Ergüssen getrieben hat, muss einen tiefen seelischen Riss hinterlassen haben & spiegelt sich in all seiner Abscheulichkeit/Vollkommenheit auf diesem musikalischen Kunstwerk wieder.
Mit ‚Downfall‘ folgt ein guter, wenn nicht auch etwas schwächelnder Song, da er von dem bereits Gehörten wenig Abwechslung bietet.
‚Followers‘ wiederum besticht mit unglaublicher Frische. Die Oase/ der ersehnte Ruhepol: mehr Gesang, mehr Melodie, bittersüße Lyrik & eine unwiderstehliche Inbrunst an Liebe…
… die mit 谿壑の欲 (Keigaku no Yoku/Gier die so tief reicht, wie ein Bergfluß) wortwörtlich zu Grabe getragen wird. Düster, schwere Gitarrenriffs, elektronische Einlenkungen & einem melancholischem Trauermarsch gleichend, wirkt es ungemein bedrückend. Hier & da ein emotionaler Ausraster (‚die Erinnerungen aus meinen Jugendtagen lachen mich aus, weil sie nicht vergeben können‘) & ein plötzliches, wie abgerissenes Ende.
Neben diesem eindrucksvollen, schwer nachwirkenden Kloß im Hals, gelingt es dem 絶縁体 (Zetsuentai/Isolator) nicht, die tief-depressive Stimmung zu lockern. Vielmehr noch verdichtet es diese, trotz klarem, hingebungsvollem Gesang. Hier hören wir meines Erachtens nach den goldenen Kern/ den Herzschlag des Albums. Ab der Mitte wird der mit 7:20min längste Song erneut gewalttätig & von unbändigen Schreien durchzogen. Nicht minder zynisch die Worte ‚Ein jeder kann dem Glück & der Liebe fündig werden. Obwohl er den anderen hintergeht‘
Zu guter Letzt, nach diesem fulminantem Höllentripp, ein glanzvoller Hoffnungsschimmer: ‚Ranunculus‘ ist nicht nur der Name einer Blume, die für den Neuanfang steht – nicht nur die kürzlich erschiene Videoauskopplung (hier als vollständige Albumversion) zu einer fantastischen, wunderschönen Welt, die DIR EN GREY geschaffen haben – sondern mit Abstand eines der kraftvollsten, liebevollsten & wunderschönsten Lieder, das ihnen in 21 1/2 Jahren gelungen ist.
Zu guter Letzt möchte ich das mir hier vorliegende, musikalische Vermächtnis – denn anders kann man ‚The Insulated World‘ nicht betiteln – welches der kranken Fantasie eines potenziellen Suzidopfers & seinen letzten Atemzügen entsprungen zu sein scheint, mit den abschließenden Worten der Ranunculusblume beenden:
„Schrei es inbrünstig heraus – Ich bin am Leben!“
Schlagwörter: Dir en grey, J-Music, J-Rock