In der letzten Zeit macht Steven Wilson wirklich alles zu Gold. Das Ende Februar erschienene Konzeptalbum Hand.Cannot.Erase hat diesen Ruf noch weiter zementiert. Die zugehörige Europatour ist seit Wochen ausverkauft, die US-Termine sind auf dem besten Wege dahin. Wir begaben uns am 9. April in die Berliner Columbiahalle um uns einen live Eindruck der aktuellen Songs zu verschaffen.
Wilson kündigte im Vorfeld an, das Album zur Gänze spielen zu wollen. Die Geschichte, die Vorbild für Hand.Cannot.Erase war, ist die der Joyce Vincent, die im Dezember 2003 in ihrer Londoner Wohnung starb, aber erst im Januar 2006 aufgefunden wurde. Ihr Tod wurde von niemandem bemerkt. Vincent hatte zuvor den Kontakt zu Familie und Freunden abgebrochen – es wird vermutet sie, war in einer Beziehung und wurde dort misshandelt. Über drei Jahre lang liefen Fernseher und Heizung. Aus der Wohnung dringende Gerüche wurden in Zusammenhang mit nahen Mülltonnen und Geräusche mit Drogenabhängigen gebracht. Erst als ihre Mietschulden stiegen wurde die Wohnung geöffnet. Steven Wilson nahm sich Thema an und kreierte darum seine Geschichte.
Das Konzert wird neben der eindrücklichen Musik Wilsons vor allem von Animationen und Filmen im Hintergrund begleitet. Die Filme sind von Wilsons Haus und Hof Filmemacher Lasse Hoile produziert worden. Als Hauptfigur fungiert hier, wie auch auf dem Plattencover, das polnische Modell Carrie Diamond. Gerade im ersten Teil des Konzertes dominieren die zugänglicheren Töne. Songs wie „Perfect Day“ und „Routine“ geraten hier zu wirklich epischen Stücken. Bei Letzterem singt Steven Wilson im Duett mit Ninet Tayeb – doch leider kommt ihre Stimme nur vom Apple Rechner. Sie hat kurz vor der Tour ein Kind bekommen, von daher war es ihr nicht möglich mit dabei zu sein. Vermutlich wird sie bei den beiden Terminen in der Londoner Royal Albert Hall, im September, dabei sein. „Routine“ ist in seiner live Fassung noch eindringlicher und bewegender als auf der Platte.
Die Handlung des Albums wird im Livekontext von thematisch passenden Songs aus dem Wilsonschen Backkatalog durchbrochen. Nach „Routine“ gibt es „Index“ von Grace for Drowning und nach Regret #9 – Harmony Korine und die geniale Porcupine Tree Ballade „Lazarus“. Zu einem erheiternden Moment kommt es, als er nach dem Gitarrensolo statt „Follow me down“ – „marry me down“ singt. Total verwundert stellt er dies nach dem Song fest – vielleicht hängt es mit den gelegentlichen Zwischenrufen von begeisterten Frauen zusammen. Wilson hatte ja schon in mehreren Interviews festgestellt, dass neuerdings auffallend viele jüngere Frauen zu seinen Konzerten kommen.
Nach dem Hauptteil der Show gibt es als Zugabe noch „The Watchmaker“ vom vorherigen Soloalbum und den zweiten Porcupine Tree Song des Abends: Sleep Together. Das absolute Finale bietet dann, das unendliche traurige „The Raven that refused to sing“.
Die Band mit Guthrie Govan (git), Marco Minnemann (dr), Adam Holzman (key) und Nick Beggs (b) ist inzwischen eine feste Konstante um Steven Wilson geworden. Auch wenn die Fans auf eine Rückkehr auf Porcupine Tree hoffen, sollte man dies nun als status quo ansehen. Zumal er uns schon im Interview 2013 sagte, dass sich die Fans, seiner Meinung nach zu sehr auf Markennamen festlegen und die Band von der Sache her ja immer eine Art Soloprojekt war.
Was bleibt hängen..? Wir erlebten einen Steven Wilson der absolut auf dem Zenit seines Schaffens ist. Sein Konzert ist ein zutiefst emotional berührendes audio-visuelles Erlebnis. Wie bereits bei der Plattenkritik erwähnt, ist der 70er Prog der vorherigen Alben fast vollständig, zu Gunsten eingängiger Melodien zurückgefahren worden. Doch auch die Fans der härteren Wilson Sounds kommen voll und ganz auf ihre Kosten. Wer die Chance hat, sollte sich ein Konzert von Steven Wilson geben! Die Chancen, dass er die Tour zum Ende des Jahres nochmal nach Europa bringt ist recht groß!
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