Irgendwie scheint alles, was Steven Wilson anfässt zu Gold zu werden. Vor zwei Jahren gelang es ihm mit „The Raven that refused to Sing“ auf Platz 3 der deutschen Charts zu klettern. Für ein progressiv Album ein beachtlicher Erfolg. Mit „Hand.Cannot.Erase“ stellt er nun sein viertes Soloalbum vor. Eine weitere hohe Platzierung dürfte vorprogrammiert sein.
Dass sich Steven Wilson mit jeder Veröffentlichung quasi neu erfindet, zeigte er schon bei Porcupine Tree. Stillstand gehört genauso wenig zu seinem Leben, wie die Festlegung auf einen Musikstil. Prägte Metal & Industrial das letzte Porcupine Tree Album „The Incident“, ging der Sound auf „Insurgentes“ – seinem ersten Album unter eigenem Namen, eher in Richtung Shoegazing. Auf „Grace for Drowning“ bewegte sich Wilson hin zum Artrock mit jazzigen Anklängen. Dies perfektionierte er später auf „The Raven that refused to Sing“. Das Album war auch als Hommage an Bands wie King Crimson oder Genesis zu verstehen. Vertrackte Läufe gepaart mit melodischen Hymnen.
Nun also „Hand.Cannot.Erase“. Wieder bewegt sich der Multiinstrumentalist weiter. Waren die Songs des Vorgängers durch ein gemeinsames Thema miteinander verbunden, steckt dieses Mal eine ganze Geschichte dahinter. Es geht dabei um die, damals, 38jährige Britin Joyce Vincent, welche 2003 in ihrem Schlafzimmer starb und erst 2 Jahre später entdeckt wurde. Niemand hatte sie vermisst.
Wohin bringt verschlägt es Steven Wilson dieses mal musikalisch? Am ehesten in Richtung No-Man – seiner Kollaboration mit Tim Bowness und in die mittlere Phase von Porcupine Tree. Also die Zeit zwischen Stupid Dream, Lightbulb Sun und In Absentia. Eine Rückbesinnung? Eher nicht. Verwurstung von Altlasten? Weniger. Vielmehr ist es dem Thema entsprechend.
Das Album beginnt First Regret – einer gut zwei minütigen Soundcollage aus Stimmengewirr, dröhnendem Bass und Synthflächen. Nahtlos geht es in 3 Years older über. Jedes Instrument bekommt hier genug Raum um sich vorzustellen. Nach gut fünf Minuten ist Steven Wilson dann das erste Mal als Sänger dran. Sofort fällt auf, dass die jazzigen Parts deutlich zurückgenommen und mehr elektronische Sounds in das Werk mit einfließen. Vor allem hat der Brite wieder mehr Wert auf Ohrwurmcharakter gelegt. Gerade der Titeltrack ist prädestiniert dafür. Mit Katherine Jenkins hat sich Wilson u.a. für vorab veröffentlichte die Trip-Hop Nummer Perfect Life stimmliche Unterstützung geholt. Doch weniger als Sängerin, sie ist als Sprecherin im Intro zu hören. Routine bildet den Übergang zum zweiten Abschnitt. Zärtlich und getragen beginnt der Song, welcher von der israelischen Sängerin Ninet Tayeb – einer Freundin von Aviv Geffen, wandelt es sich zum epischen Wuchtsong. Grandiose Wahl Mr. Wilson!
Der zweite Teil ist deutlich rockiger. Home Invasion und Regret #9 erinnern am ehesten an das Vorgängeralbum. Tempiwechsel, ein paar jazzige Anleihen und vertracktere Synthiesounds von Adam Holzmann. Auch wenn es Steven Wilson vielleicht nur ungern hört, wollte er sich ja weniger dem Bandzwang hingeben, seine Band ist zusammengewachsen und präsentiert sich äußerst homogen. Mit Happy Returns und Ascendant Here On endet Hand.Cannot.Erase – ein zutiefst schönes Album, was zum Nachdenken anregen soll. Nachdenken über das Leben in heutigen Großstädten und der gleichzeitig damit verbundenen Anonymität. Im selben Atemzug macht es auch Hoffnung.
Wilson ist ein weiterer Meilenstein gelungen. Irgendwann fragt man sich schon, wie lang diese scheinbar grenzenlose Kreativitätsphase noch anhält. Das Niveau wird mit jedem Mal eine Latte höher gelegt. Träumerische Melodien, gepaart mit rockigen Elementen und gelegentlich vertrackten Melodiebögen. Das ist das, was man zu einem Erfolgsalbum braucht und Steven Wilson kennt dieses Rezept offenbar sehr gut. Perfekte Musik des 21. Jahrhunderts mit Wurzeln im 20.! 10/10 Punkte!
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